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Warum Deutschland kein Sommermärchen 2016 erlebt

Warum Deutschland kein Sommermärchen 2016 erlebt

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  • Die Stimmung im Land ist nicht mit dem Sommermärchen von 2006 zu vergleichen
  • Das Ausland blickt wieder anders auf die Deutschen als vor zehn Jahren
  • Das Klima im Land hat sich verändert, die Vorbehalte gegenüber Zuwanderern sind wieder größer

Berlin. 

Im Ausland rieben sie sich verwundert die Augen – und die Deutschen waren begeistert von sich selbst. Farbenfroh und sympathisch, weltoffen und tolerant, dazu ein Patriotismus, der so gar nichts Bedrohliches an sich hatte. Und auf der Tribüne im Stadion jubelte die Kanzlerin ausgelassen mit. So präsentierte sich das Land bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 – Deutschland, ein Sommermärchen in Schwarz-Rot-Gold. Die bunte Republik Deutschland feierte sich und ihr neues Selbstverständnis. Heute, zehn Jahre danach, reibt man sich wieder die Augen und fragt sich: War das alles wirklich nur ein Märchen?

Deutschland in Zeiten der EM 2016: Wo vor zehn Jahren Hunderttausende vor Großleinwänden Fußballfeste feierten – etwa vor dem Brandenburger Tor in Berlin – verlieren sich heute ein paar Tausend Unverzagte bei den Spielen der deutschen Mannschaft. Die damals allgegenwärtigen Deutschland-Fähnchen an den Autofenstern sucht man jetzt vergebens. Und für den Autokorso sorgen bisher allein die türkischen Fans. Der Vergleich einer WM im eigenen Land mit einer EM in Frankreich mag ungerecht sein – aber es sind ja nicht allein die Fanmeilen, die in diesen Tagen einen scharfen Kontrast bilden zu 2006. Es ist das Land, das sich gewandelt hat.

Grüne und Jusos fordern inzwischen wieder, die Fußballfans sollten während der EM lieber keine Deutschland-Fahnen schwenken. Der unbeschwerte deutsche Patriotismus des Sommermärchens ist dahin, spätestens seit Zehntausende durch die Straßen ziehen, um das „Abendland“ gegen eine angeblich drohende Islamisierung zu verteidigen. Politiker der AfD schwadronieren auf Marktplätzen von „tausend Jahren Deutschland“, machen ungeniert Politik mit fremdenfeindlichen Parolen – und ziehen damit von einem Wahlerfolg zum nächsten. Auf den Flüchtlingsstrom reagiert das Land mit einer Welle der Hilfsbereitschaft, aber auch mit dumpfer Fremdenfeindlichkeit und Übergriffen auf Asylbewerber. Dutzendfach werden Flüchtlingsheime angezündet. Der Bundespräsident, der wie die Kanzlerin bei Besuchen in Flüchtlingsunterkünften von rechten Demonstranten als „Volksverräter“ beschimpft wird, spricht von einem „Dunkeldeutschland“ .

Das Klima im Land hat sich verändert, die Vorbehalte gegenüber Zuwanderern sind wieder größer. Daran ändert auch nichts, dass die deutsche „Internationalmannschaft“ mit Namen wie Khedira, Ösil, Mustafi, Gomez, Sané oder Can multikultureller aufgestellt ist denn je. Wenn der AfD-Politiker Alexander Gauland darüber sinniert, dass die Deutschen einem Jérôme Boateng zwar zujubeln, ihn aber lieber nicht zum Nachbarn haben wollen, dann ist das fraglos ein perfides Spiel mit fremdenfeindlichen Ressentiments – aber viele Dunkelhäutige müssen hierzulande genau diese Erfahrung machen. Ausgrenzung statt Weltoffenheit.

Auch das Ausland blickt inzwischen wieder anders auf die Deutschen als 2006. Und dies nicht nur in Griechenland, wo sie Bilder der Bundeskanzlerin in NS-Uniform und mit Hitler-Bärtchen durch die Straßen trugen. Die lange Zeit sture Haltung der Bundesregierung während der Eurokrise und der nicht eben sensible Ton im Umgang mit den angeblich leichtfertigen Euro-Partnern in Rom, Madrid oder Lissabon hat viele Sympathien gekostet. Da war es wieder, das Bild vom arroganten Deutschen als Oberlehrer, der die anderen zurechtweist, es bei sich selbst aber nicht so genau nimmt mit den Regeln.

Die Medien sind in diesen Tagen voll von Hoffnung auf ein „neues Sommermärchen“. Gemeint ist damit ein Sieg der deutschen Elf bei der EM. Dass der sportliche Erfolg erneut eine Stimmung im gesamten Land entfachen könnte wie 2006, wäre zu wünschen. Doch mit dieser Aufgabe ist der Sport überfordert. Vor zehn Jahren kanalisierte die Fußballbegeisterung eine positive Grundstimmung, die in der Gesellschaft gewachsen war. Heute ist die Lage – siehe oben – leider eine andere.