Datteln. Zwei Frauen aus Datteln wurden als Babys im Krankenhaus vertauscht und waren jahrzehntelang ahnungslos. Sie wuchsen in derselben Straße auf und waren sogar Schulfreundinnen. Die Familien schweigen bis heute. Nur eine Tochter spricht über das Leben mit einer falschen Identität.
In einem kurzen Moment der Unachtsamkeit muss es passiert sein. Vielleicht hat eine Krankenschwester das Baby einfach nur in das falsche Bettchen gelegt. Was wäre aus ihr geworden, wenn es diesen Moment nicht gegeben hätte? Hätte sie denselben Beruf erlernt, denselben Mann geheiratet? Gaby Hoeft ist heute 49 Jahre alt. Sie stellt sich diese Fragen immer wieder. Es sind die Fragen einer Frau, die mit einer falschen Identität lebt. Nicht einmal zwei Tage nach ihrer Geburt bekam sie einen anderen Namen, ein anderes Geburtsdatum und eine andere Familie. Gaby Hoeft sollte eigentlich Silke Liedtke heißen. Sie ist am 21. November 1959 geboren, doch in ihrem Pass steht der 22. November.
Inge Liedtke lag nach der Geburt ihrer Tochter mit Waltraud Klein in einem Zimmer des St. Vincenz-Krankenhauses in Datteln. Waltraud Klein hatte nur wenige Stunden später auch eine Tochter geboren. Irgendwann muss jemand die Babys vertauscht haben. Waltraud Klein soll noch widersprochen haben, als ihr eine Nonne den falschen Säugling in die Arme legte. „Ich habe ein Baby mit schwarzen Haaren geboren“, sagte sie. Doch die Nonne behauptete, dem Kind seien die Haare ausgefallen. So kam es, dass Silke zu Gaby wurde und bei Waltraud und Wilhelm Klein aufwuchs – nur wenige hundert Meter von ihrem Elternhaus entfernt.
„Ein Teil meines Lebens stimmte nicht mehr“
Warum Waltraud Klein sich mit der lapidaren Antwort der Nonne zufrieden gab, ist für Gaby Hoeft unbegreiflich. Doch sie kann die Frau, bei der sie aufwuchs und die sie „Mama“ nennt, nicht danach fragen. Denn Waltraud Klein will nicht darüber sprechen. Die Geschichte der vertauschten Töchter ist auch die Geschichte eines lang gehüteten Familiengeheimnisses. Nur Gaby Hoeft und ihr leiblicher Bruder Detlef Liedtke wollen endlich reden. „Der Kontakt zu Detlef ist für mich sehr wichtig“, sagt sie. „Ich hatte lange das Gefühl, dass ein ganzer Teil meines Lebens nicht mehr stimmte.“
Die vertauschten Töchter Gaby und Silke waren jahrzehntelang ahnungslos. Sie lebten in derselben Straße, kamen schließlich in dieselbe Hauptschulklasse und waren eine zeitlang sogar Freundinnen. Gaby war oft bei Liedtkes zu Besuch und fühlte sich zu Inge Liedtke ungewöhnlich stark hingezogen. „Inge war für mich nicht bloß irgendeine Nachbarsfrau. Ich habe immer gespürt, dass da mehr ist zwischen uns“, sagt sie. „Manchmal bin ich sogar mit Sorgen zu ihr gegangen.“ Heute glaubt Gaby Hoeft, dass ihre leibliche Mutter damals bewusst den Kontakt zu ihr suchte. Diese Vorstellung tröstet sie.
In all den Jahren haben Nachbarn und Verwandte immer wieder über Gaby und Silke getuschelt. Nahrung für den Klatsch gab die große Ähnlichkeit zwischen Silke Liedtke und Willi Klein. Doch nur einmal durchbrach die Wahrheit die Decke des Schweigens. Bei Gabys Kommunion waren auch Liedtkes eingeladen. Plötzlich sprang eine Tante auf. Ihr Finger deutete abwechselnd auf Gaby und Silke. Sie rief: „Da stimmt etwas nicht. Das eine Kind gehört in die Familie und das hier in die andere.“ Doch die Mütter klammerten sich an ihren falschen Töchtern fest. „Das ist mein Kind, das gebe ich nicht mehr her“, haben sie gerufen. Der ältere Bruder Detlef kann sich noch gut erinnern: „Es gab einen richtigen Tumult.“
Nur Kälte und Misstrauen
Blut ist dicker als Wasser, sagt ein Sprichwort. Doch daran glaubt Gaby Hoeft schon lange nicht mehr. Sie vermutet, dass die Mütter sich abgesprochen haben. Am Anfang hätten sie alles verdrängt – aus Angst und Scham. Und dann sei irgendwann einfach der richtige Zeitpunkt vorbei gewesen. Irgendwann hätten die Mütter die Tochter mehr geliebt, die bei ihnen aufgewachsen sei. Sie wollten sie um keinen Preis mehr gegen das leibliche Kind eintauschen. So erklärt sich Gaby Hoeft ihre Geschichte. Das tut weh. Doch noch schmerzhafter war die Ablehnung, die ihr entgegenschlug, als sie mit 36 Jahren endlich die Wahrheit erfahren wollte.
Die Liedtkes waren nach einer Weile in einen anderen Stadtteil gezogen. Gaby und Silke haben geheiratet und selbst Familien gegründet. Doch die Gerüchte blieben. Eine Freundin gab schließlich den Anstoß. Sie hatte Silke im Kindergarten kennengelernt: „Die sieht ja aus wie dein Bruder Willi“, hatte sie danach zu Gaby Hoeft gesagt. Gabys Zweifel wurden schließlich zu groß. Sie ging bei den Liedtkes vorbei. „Weißt du, warum ich hier bin?“, hat sie Inge Liedtke gefragt. „Ja, weil du meine Tochter bist“, hat diese geantwortet. Der Besuch war für Gaby ein Schock. Keine Umarmung, keine Erleichterung, keine Freude. Nur Kälte und Misstrauen. Der Vater habe ihr sogar Geld angeboten, damit sie den Mund hält. „Ich hatte hinterher Schuldgefühle und dachte: Du machst gleich zwei Familien kaputt.“
„Man kann nur eine Mama haben“
Danach war wieder Schweigen. Bis Vater Liedtke 1997 starb und Gaby unerwartet zu seiner Beerdigung eingeladen wurde. Hier traf sie zum ersten Mal einen Verbündeten: den leiblichen Bruder Detlef Liedtke. Er suchte ihre Nähe, wollte sie kennenlernen. Sie gingen gemeinsam hinter dem Sarg her. Und Gaby musste denken: „Jetzt habe ich meinen richtigen Vater nie kennengelernt.“ Sie hätte gerne seine Hand gestreichelt kurz vor seinem Tod. Nach der Beerdigung wollten Gaby und Detlef die Familien endlich zusammenführen. „Doch die blocken weiter ab“, sagt Detlef Liedtke. „Dabei geht es nicht um Schuld, sondern einfach nur darum, zusammen eine große Familie zu sein.“
2003 hat Gaby Hoeft Speichelproben von sich und Inge Liedtke an ein Labor in Recklinghausen geschickt. Das Ergebnis des Gentests hat sie nicht überrascht. „Ich brauchte einfach nur Schwarz auf Weiß die Bestätigung, dass Inge meine Mutter ist.“ Von Waltraud und Wilhelm Klein hat sich Gaby immer geliebt gefühlt. „Waltraud ist meine Mama. Und Inge ist für mich Inge. Man kann nur eine Mama haben“, sagt Gaby Hoeft. Dennoch bleibt dieses Gefühl, nirgendwo richtig dazuzugehören. Und manchmal auch der Gedanke daran, vielleicht etwas verpasst zu haben. „Die Liedtkes haben Silke einen Führerschein und eine Lehre finanziert“, sagt Gaby Hoeft.
Silke Liedtke, die andere vertauschte Tochter, arbeitet heute im Café des Altenheims, in dem Waltraud und Wilhem Klein leben. Sie sagt Herr und Frau Klein zu ihnen. Auch Gaby Hoeft begegnet ihrer Mutter ab und zu. Dann grüßen sie sich freundlich, bleiben kurz stehen und plaudern über das Wetter.