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Was Joachim Löw nach zehn Jahren im Amt denkt – und was er bedauert

Was Löw nach zehn Jahren im Amt denkt – und was er bedauert

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Ganz schön lässig: Joachim Löw posiert im Hotelzimmer des Ritz-Carlton in Berlin. Foto: Reto Klar
Bundestrainer Joachim Löw spricht im Interview über zehn Jahre im Amt, sein Bedauern über den Abgang Michael Ballacks und eine Grenzerfahrung.

Berlin. 

Zimmer 539 im Ritz-Carlton am Potsdamer Platz in Berlin. Joachim Löw findet am Ende dieses Gesprächs keine richtige Antwort auf die Frage, wie man sich mal an ihn erinnern soll, wenn er den DFB verlässt. Seit zehn Jahren ist der 56-Jährige Bundestrainer, aber es fühle sich viel kürzer an, sagt er. Vor dem Treffen der Nationalmannschaft für die beiden Länderspiele gegen Tschechien am Sonnabend (Hamburg) und Nordirland am Dienstag (Hannover) spricht Löw über Inspiration und die Frage, wie man weitermacht, wenn man eigentlich nicht mehr kann.

Herr Löw, in manchen Unternehmen gibt es Prämien bei Mitarbeiter-Jubiläen. Was haben Sie zu Ihrem 10-Jährigen als Bundestrainer vom DFB bekommen?

Joachim Löw: Bislang noch nichts. (lacht) Aber ich habe im Vorfeld auch jegliche Andeutung einer Feier abgelehnt. Denn gefühlt bin ich eigentlich erst fünf Jahre Bundestrainer. Jedenfalls wirkt es für mich kürzer als zehn Jahre. Ich kann keine Abnutzungserscheinungen bei mir erkennen. Ganz im Gegenteil. Ich verspüre große Lust und Freude an der Aufgabe.

Wie kommt das?

Löw: Weil es ja immer wieder neue Herausforderungen gibt. Ein Turnier geht zu Ende wie jetzt die EM, und dann kreisen die Gedanken schon wieder um die WM in zwei Jahren. Wo wollen wir da sein? Wohin geht die Entwicklung im Welt-Fußball? Welche Spieler führen wir heran? Das motiviert mich.

Als Sie im August 2006 übernommen haben, stand mit Michael Ballack nur ein einziger Spieler im Kader, der im Ausland sein Geld verdiente. Heute hat die Hälfte der Mannschaft Auslandserfahrungen. Was sagt das über die Entwicklung des deutschen Fußballs aus?

Löw: Dass die deutschen Spieler im Ausland begehrt sind, dass ihre Leistungen registriert werden. Und dass der Wert des deutschen Fußballs insgesamt im Ausland wieder gestiegen ist. Sehen Sie, ich schätze die Qualität der Bundesliga heute als extrem hoch ein, die Liga und die Klubs arbeiten hier hervorragend, das Zusammenspiel mit den Landesverbänden funktioniert, ein Rad greift ins andere. Hier hat der Gedanke an die Zukunft Einzug gehalten. Wir haben Jugendzentren, Förderprogramme, und bei uns ist die Verknüpfung zwischen Ausbildung und der Profiabteilung viel, viel besser geworden. In Deutschland wird nachhaltiger gearbeitet als zum Beispiel in England. Dort werden bei den Spitzenvereinen Spieler für viel Geld geholt, die dann auch ihre Leistungen bringen, aber der Nachwuchs hat viel weniger Chancen als in Deutschland. Das ist unser Trumpf.

Welche Entscheidung aus Ihren zehn Jahren als Bundestrainer würden Sie heute anders treffen?

Löw: (nachdenklich) Was ich bedauere, ist, dass Michael Ballack keinen besseren Abgang aus der Nationalmannschaft hatte. Dass wir das nicht zur Zufriedenheit aller haben lösen können.

Hätte Ihnen ein etwas feierlicherer Abschied besser gefallen?

Löw: Ja, das hätte mir besser gefallen. Natürlich.

Wie viel Joachim Löw aus der Anfangszeit 2006 steckt noch im heutigen Joachim Löw?

Löw: Ich habe mich als Führungsperson weiterentwickelt. Es spornt mich an, Entwicklungen vorauszusehen, mich umzuschauen, was im Fußball passiert. Der Blick in die verschiedenen Länder, in die verschiedenen Arten der Fußballkultur, hat mir enorm in meiner Weiterentwicklung geholfen.

Der neue HSV-Trainer Markus Gisdol hat gerade erzählt, dass er mal bei den Handballern vom THW Kiel hospitiert hat, BVB-Trainer Thomas Tuchel holte sich Anregungen bei den Basketballern von Alba Berlin. Holen Sie sich ebenfalls Impulse aus anderen Sportarten?

Löw: Wir haben immer mal wieder Kontakt mit Trainern aus anderen Sportarten – vor zehn Jahren schon, als wir uns viel mit Hockey und dem damaligen Nationaltrainer Bernhard Peters auseinandergesetzt haben. Aktuell arbeitet Markus Weise eng mit Hansi Flick und Oliver Bierhoff im Akademie-Projekt zusammen. Da werden viele Vergleiche gezogen und auch Erkenntnisse übernommen, zum Beispiel in der Leistungsdiagnostik. Auch Basketball und Handball sind Themen, aber auch Sportarten, die von der Körperlichkeit und der Intensität leben. Wir haben immer wieder den Blick über den Tellerrand geworfen und werden dies auch weiterhin tun. Gerade auch in der Akademie.

Welche „Tellerrand“-Begegnung hat Sie zuletzt weitergebracht?

Löw: Im Fußball haben wir uns in den vergangenen zwei Jahren mit Chile befasst, weil Chile in seiner Entwicklung beeindruckend ist und auf einem taktisch unheimlich hohen Niveau agiert. Die spielen sehr intelligent – und das systematisch. Für ein so kleines Land mit 18 Millionen Einwohnern ist das beeindruckend.

Woran liegt das?

Löw: Die haben nicht einen Super-Trainer, sondern eine sehr gute Trainerausbildung. Sie sind nicht nur fokussiert auf ihre eigene Mentalität und ihre eigene Spielweise, sondern suchen sich auch Einflüsse von allen anderen Kulturen, die es gibt. Unser Chefscout Urs Siegenthaler war zuletzt zwei Mal bei der Copa America, da hat er sich bei den Chilenen umgeschaut, sich mit dem Trainer unterhalten und eine Analyse seiner Erkenntnisse angefertigt.

Welche Erfahrung außerhalb des Sports hat Sie bisher am meisten inspiriert?

Löw: Die Besteigung des Kilimandscharo, 2003. Das war das interessanteste und erkenntnisreichste Erlebnis überhaupt in meinem Leben. Ich habe eine Tour gemacht, die fünf oder sechs Tage und Nächte dauerte. Losgegangen sind wir bei plus 40 Grad im Tropenwald, ich habe Affen gesehen und Papageien. Am Ende kamen wir im ewigen Eis an, am Gletscher.

Wie fühlt sich der Aufstieg an?

Löw: Es ist körperlich und geistig eine wahnsinnig große Anstrengung, weil man jeden Tag zwölf Stunden läuft. Am letzten Tag vor dem Aufstieg sind wir morgens um sieben Uhr losgegangen bis abends um 19 Uhr. Dann haben wir nur zwei, drei Stunden Pause gemacht, um in der Nacht den letzten Aufstieg zu meistern und zum Sonnenaufgang auf dem Gipfel anzukommen. Das war die Phase, in der ich geglaubt habe, dass ich keinen einzigen Schritt mehr berghoch gehen kann. Jeder Schritt tat so weh, dass ich das Gefühl hatte, es ist der letzte, den ich mache.

Wie haben Sie sich überwunden?

Löw: Ich habe immer zehn Schritte gezählt, um die nächste Pause zu machen. Und wenn ich die zehn Schritte gemacht habe, dann dachte ich: Jetzt drehst du um. So ging das drei, vier Stunden lang, körperlich und geistig völlig am Limit. Und dann gegen 5 Uhr am Morgen haben wir eine Kuppe überquert und den Gipfel gesehen. Bis dahin sind es dann normalerweise noch zwei Stunden. Aber als ich über diese Klippe hinweg war, dachte ich, ich sei neu geboren. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich den Rest joggen könnte. Diese Grenzerfahrung hat mir gezeigt, dass es immer weiter geht, das man immer noch einen Schritt nach vorne machen kann, selbst wenn man glaubt, dass es nicht mehr geht. Und wenn man das Ziel sieht, egal wie schwer es zu erreichen ist, dann dreht man nicht um! Diese Erkenntnis hat mir in meinem Leben immer geholfen – auch bei Rückschlägen oder Enttäuschungen.

So denkt Bundestrainer Löw über eine Vertragsverlängerung 

Wie kann man es schaffen, sich nach zehn Jahren im gleichen Job nicht abzunutzen?

Löw: Der WM-Titel hat einen großen Motivationsschub bei mir ausgelöst. Natürlich gab es auch Leute, die meinten, das sei ein guter Zeitpunkt aufzuhören. Bei mir war es das Gegenteil. Der Titel hat in mir die Gier freigesetzt, diese Leistung bestätigen zu wollen. Das war eine ganz wichtige Erkenntnis für mich. Der Weg nach oben ist das eine. Oben zu bleiben, ist etwas ganz anderes. Dieser Plan, den man alle zwei Jahre neu aufstellt, der treibt mich an.

Sie haben zwei Jahre für Ihren Plan, in der Bundesliga ist die Halbwertzeit eines Trainers nicht mal die Hälfte. Sind Sie in diesen Tagen mal wieder froh, kein Bundesligatrainer zu sein?

Löw: Alles hat seine Vor- und Nachteile. Natürlich würde ich auch gern täglich mit den Spielern arbeiten. Andererseits habe ich tatsächlich zwei Jahre Zeit, einen Prozess zu steuern. Wobei es natürlich auch Vereine gibt, die eine langfristige Philosophie haben und diese versuchen umzusetzen. Es gibt aber leider auch andere Beispiele.

…das nächste Länderspiel ist ja in Hamburg…

Löw: Da denke ich jetzt gar nicht speziell an Hamburg, das möchte ich gar nicht beurteilen. Was mir grundsätzlich nicht gefällt, ist die Art und Weise, wie so ein Trainerwechsel manchmal vonstattengeht. Ich habe schon Verständnis, dass auch aus Vereinssicht manchmal ein Trainerwechsel angebracht sein kann. Entscheidend aber ist, dass dies immer fair und korrekt über die Bühne geht. Dieses Gefühl habe ich aber leider nicht immer. Da wird auch mal ein Trainer komplett im Regen stehen gelassen und wochenlang mit einem Ring durch die Nase in der Manege vorgeführt.

Bei Ihnen ist es ja genau umgekehrt: Reinhard Grindel, der DFB-Präsident, würde lieber heute als morgen mit Ihnen verlängern. Wann unterschreiben Sie?

Löw: Das Vertrauen ehrt mich. Aber momentan gibt es überhaupt keinen Grund dafür. Jetzt freue ich mich zunächst einmal auf die WM 2018 in Russland.

Wäre es wirklich denkbar, dass Sie erstmals bewusst in ein Turnier gehen, ohne zu wissen, wie es danach für Sie weitergeht?

Löw: Natürlich ist das für mich denkbar. Aber sicherlich wird es vor dem Turnier noch einmal ein Gespräch über unsere gemeinsamen Ziele geben.

Herr Löw, was soll man später mal über Sie sagen, wenn Sie den DFB verlassen?

Löw: Puh, über so etwas mache ich mir eigentlich keine Gedanken. (überlegt lange) So denke ich nicht. Ich handele nicht danach, wie es von anderen bewertet werden könnte.